1935-2010 „Kritzendorf“, ein Paradies, am Rande der Stadt.

Dass es „Kritzendorf“ gibt – oder besser: gab – ist ein Zufall. Es war ein Teil des Lebens meiner Großeltern aber die ganze Familie war in Kritzendorf irgendwie zu Hause. Wir, die anderen, haben „Kritzendorf“ konsumiert und sind nach der Konsumation wieder in der Löchern der Stadt verschwunden. Aber die Großeltern hielten das Werkl in Gang damit wir am nächsten Wochenende wieder „rausfahren“ konnten.

„Kritzendorf“ ging zwar in den Besitz meiner Eltern und dann in meinen Besitz über aber wir waren nicht einmal Verwalter und so ist es dann auch in der Ferne der Vergangenheit verschwunden. Nichts, außer einige Bilder erinnern mehr an das Paradies am Rande der Stadt. Nicht einmal eine der urigen Petroleumlampen konnte ich retten, denn im letzten Jahr des Bestands wurde in der Hütte eingebrochen und die Lampen gestohlen.

„Kritzendorf“

Bis zu meinem 22. Lebensjahr verbrachte ich jeden Sommer in unserer kleinen Hütte in Kritzendorf, Feldstraße 86. Das Grundstück ist etwa 5000²m groß und liegt an einem Sonnenhang an dessen unterem Ende die Feldstraße und an seinem oberen Ende der Hoheneggersteig, ein Weg für die Weingärtner und Wanderweg, verlaufen. Die Breite des Grundstücks ist nur 12 bis 15 Meter. Es ist daher ein langes Feld. In der Mitte war auf etwa einem Drittel der Länge ein Weingarten in Einzelstockkultur angepflanzt. Heute zieht sich der Weingarten bis zum Wald. Das Grundstück war nicht eingezäunt, es gab kein elektrisches Licht, nur Petroleumlampen und auch keinen Wasserleitungsanschluss, nur zwei Brunnen.

Wie alles begann

Das Grundstück kam 1935 in den Besitz meiner Kvaček Großeltern und zwar schuldete ihnen ein Geschäftspartner, Herr Bozdech, der offenbar auch der tschechischen Gesellschaft angehörte, viel Geld. Die Hintergründe dieses Privatkredits meiner Großmutter an Herrn Bozdech sind noch etwas im Dunkeln, können aber wegen vorhandener Gerichtsakten aufgeklärt werden. Man einigte sich schließlich, dass Herr Bozdech meinen Großeltern statt des Geldes das Grundstück in Kritzendorf überlassen würde. Am Grundstück war ein einfaches Holzhaus mit einem Dachboden.

Die Kvaček in Kritzendorf

Das Gesellenstück meines Großvaters als frisch-gebackener Hausbesitzer war, dass er das Holzhaus mit einer Schilfmatte belegte und das Haus anschließend verputzte. Damit war die Holzkonstruktion besser gegen Witterungseinflüsse geschützt.

Mein Großvater war eigentlich gelernter Schlosser aber sehr vielseitig. Er eignete sich alle gärtnerischen Fertigkeiten an, die für Obst- und Weinbau erforderlich sind. Sehr hilfreich war ihm dabei ein weiterer Tscheche, Košinský, der weiter oben im Tal ein Bauernhaus bewohnte. Košinský war einer der ersten, der motorisiert war, denn er besaß schon sehr früh nach dem Krieg eine Beiwagenmaschine.

Von Košinský holte sich mein Großvater Tipps zum Veredeln von Obstbäumen und zur richtige Pflege des Weingartens. Eine Art gärtnerisches Gesellenstück stand hinter der Hütte: ein Birnenbaum mit sieben verschiedenen Birnensorten. Dahinter dann eine Schaukel, über die ich noch berichten werde.

Kritzendorf war ein Magnet für alle anderen Tschechen in der Bekanntschaft meiner Großeltern (und dann auch meiner Eltern) und mein Großvater war der ideale Gastgeber, denn Wein aus dem eigenen Weingarten war ausreichend vorhanden und er war durch seine legere Art bei allen sehr beliebt. Meine Großmutter freute sich, wenn ordentlich gegessen wurde und mein Großvater, wenn der Wein schmeckte.

Die Kriegsjahre

In den Kriegsjahren wurde der Garten in Kritzendorf geradezu überlebenswichtig. Mein Großvater war ein Typ, den man aus dem „Bockerer“ kennt. Er hielt seine Kritik an Herrn Hitler nicht zurück, auch nicht im Geschäft und es kam mehrer Male dazu, dass die ganze Familie sich bei der Gestapo einfinden musste, zu einer Art Gesinnungskontrolle. Meiner Großmutter war klar, dass das sehr gefährlich für alle werden konnte und verordnete ihm einen Zwangsaufenthalt in Kritzendorf, wo er gewissermaßen „aus der Schusslinie“ kam, wie man später erzählte. In diesen Kriegsjahren dürfte er vollends zum Freizeitgärtner geworden sein.

Gleichzeitig hat er aber die Schlosserei nicht vernachlässigt und richtete sich eine Schlosserwerkstätte ein, auf der er einen besonderen Schlosstyp in immer neuen Varianten herstellte.

Am oberen Ende des Grundstücks pflanzte mein Großvater einen kleinen Wald aus Akazienbäumen. Dieses Holz war für Weingartenstöcke bestimmt und so, wie wir den Großvater kannten, hätte er die Einzelstockhaltung sicher bald in eine Hochkultur umgewandelt.

Dieses Interesse am Garten führte zur Bekanntschaft mit einem jungen Gärtner Albín Kafka, dessen Familie in Greifenstein ein Sommerhaus bewohnte (?).

Die Nachbarn

Die Nachbarn in Kritzendorf sind schnell aufgezählt. Der Nachbargrund zur Rechten (wenn man talwärts schaut) war eine Wiese und gehörte Familie Resperger, die ich nur als Resperger-Madln kannte. Ihr jüngerer Bruder Hermann hatte eine Behinderung an der Hand und mähte (anfangs noch mit Sense) mit seinen Schwestern zwei Mal im Jahr die Wiese. Das Heu wurde zu großen Haufen zusammengerecht, ein Hallo für die Kinder. Der Abtransport erfolgte mit Ochsenkarren, später dann natürlich mit einem Traktor. Heute ist der untere, straßenseitige Teil des Grundstücks bebaut. Roman, der Besitzer, ist auch Mitglied in unserem ClubComputer.

Der nächste Nachbar zu Rechten war Familie Wimmer. Sie besaßen gleich drei solcher Felder mit vielen Obstbäumen und einer kleinen Holzhütte. Die Wimmers wohnten in Unterkritzendorf und gingen täglich diese fünf Kilometer zu Fuß hin und zurückt. Mit zunehmendem Alter der Wimmers verwilderte der Garten immer mehr, wie übrigens auch unserer nach dem Tod des Großvaters.

Zur Linken ist ein schmaler Weg, der zu einem Grundstück weiter oben am Berg führte, danach kam das Grundstück von Frau Flicker mit einem gemauerten Wohnhaus, das praktisch unverändert heute noch besteht und von der Tochter ihrer Nichte, Elisabeth, bewohnt wird. Frau Flicker war eine sehr gläubige Frau. Keine Sonntagsmesse ließ sie aus und auch am Samstag ging sie die fünf Kilometer bis zur Kirche in Unterkritzendorf. Man konnte das gleich an ihrer grünen, grob gestrickten Stola erkennen, welches ihr Ziel war.

Frau Flicker sprach nur Deutsch und ich als Kleinkind nur Tschechisch. Frau Flicker sah es als wichtige Aufgabe an, mir ein deutsches Gedicht zu lehren. Und sie tat das auch. Es war nicht schwer, Kinder können das. Das Unangenehme war aber, dass ich dieses Gedicht sicher bis zu meinem 12. Lebensjahr immer wieder wie ein Afferl aufsagen musste. Es war mir so unangenehm, dass ich es vergessen, wahrscheinlich aber verdrängt habe aber vielleicht bis zum 18. Lebensjahr habe ich es gekonnt.

Ich habe ein bisschen den Verdacht, dass diese Pflichtübung des Aufsagens dieses Gedichts eine Art Trauma vor öffentlicher Rede begründet hat, das ich nicht wirklich abgelegt habe, nur lernte ich damit besser umzugehen.

Frau Flicker hatte auch einen Hund, der als Kettenhund gehalten wurde. Er war wehrhafter als unser Tasso und es kam einige Male zu heftigen Raufereien zwischen den Hunden.

Frau Flicker hatte eine Nichte, Lotte Plachy („plachý“=“scheu“), die im Sommer mit ihrem Mann Anton bei ihr wohnte. Die Plachy hatten aber auch eine Stadtwohnung im Rabenhof im 3. Bezirk und pendelten ebenso wie wir zwischen Wien und Kritzendorf hin und her. Ihre Tochter Elisabeth („Liesi“) war zwar um Einiges älter als ich, aber es ergab sich immer wieder, dass ich mit „Lisi“ spielen konnte oder dass wir gemeinsam einkaufen gingen.

Die Plachy hatten auch ein Pflegekind, Dorli Hossek, die wieder ein bisschen jünger als ich war.

Die Plachy-Nachbarn hatten in dieser Zeit immer auch Hasen und Hühner. So war es für mich nicht Unbekanntes zu sehen, wie diese Tiere dann schließlich verarbeitet werden.

Der nächste Nachbar zur Linken war Familie Huber. Aber als ich noch nicht in die Schule ging, war das Grundstück noch unbebaut. Die Huber, eine Familie aus Bayern hat es in den Kriegswirren auf die Payerhütte verschlagen und sie schafften es irgendwie, dieses Grundstück zu erwerben. Herr Huber war ein tüchtiger Maurer, die „Kraft in Person“ und er errichtete für seine Familie zuerst ein Holzhaus, heute würde man Bauhütte sagen. Und in dieser Hütte, die nur aus einen Raum mit einer Tür und zwei kleinen Fenstern bestand, wohnten zwei Erwachsene und zwei Kinder Antonia, und Michael. Antonia war in meinem Alter, Michael etwas jünger; ideale SpielkameradInnen.

Ziemlich bald nach der Errichtung der Hütte begann Herr Huber mit dem Hausbau, er plante ein typisch bayrisches Haus auf dem sehr schmalen Grundstück mit einem schmalen Geldbeutel. Daher hat der Bau viele Jahre gedauert, viele Jahre in denen die Familie auf engstem Raum in der zuerst gebauten Holzhütte gelebt hat; Sommer und Winter. Heute kann sich das Haus aber sehen lassen; mit Vermarktung des eigenen Weins im Heurigenkeller.

Herr Huber schätzte meinen Großvater wegen seiner handwerklichen Vielseitigkeit sehr. Immer wieder kamen sie zu Gesprächen zusammen.

Für Kinder war die Überwindung der Grundstücksgrenzen sehr einfach. Entweder gab es überhaupt keinen Zaun und wenn, dann war er schon so zusammengetreten, dass man mit einem Sprung drüber kam. Zwischen unseren Hütten waren daher nur etwa 40 Meter. Würde man den vorgesehenen Weg nehmen, also zur Straße und dann das nächste Grundstück wieder hinauf, wären es gut 150 Meter.

Alle anderen Nachbarn, etwa die auf der anderen Straßenseite, waren nicht mehr in unserem Blickfeld. Man kannte sich, das war’s aber auch schon.

Nach dem Krieg

Die wichtigste Veränderung in Kritzendorf kam durch mich zustande. Schon in meinem ersten Lebensjahr in der Hütte in Kritzendorf war meinem Großvater klar, dass die Hütte zu klein für die größer gewordene Familie geworden ist und er beschloss eine Erweiterung durch eine Veranda, einen Keller und ein WC (besser ein Plumps-C). Und 1950 halfen alle – vor allem auch mein Vater – bei dem Projekt mit. Mit dieser Erweiterung konnte man sich auch bei schlechtem Wetter in der allseitig geschlossenen Veranda aufhalten.

Die Veranda verlief über die ganze Breite der Hütte und man betrat die Hütte durch die Veranda. In der Veranda waren ein Esstisch, eine Couch, ein weiterer Tisch, dann eine Weinpresse und danach die Werkstatt meines Großvaters. Kanalisation gab es nicht, daher musste man eine Senkgrube graben. War die Senkgrube voll, wurde ihr Inhalt ausgeschöpft und im Weingarten als Dünger ausgebracht. Man muss sich das so vorstellen, dass alles, auch die Kübel mit den langen Stielen zum Ausschöpfen, selbst gemacht waren; zum Beispiel aus alten Blechen.

Samstag und Sonntag waren die großen Besuchstage. Alle Verwandten, großmutterseits alle meine Großtanten und deren Kinder aber auch der Bruder meines Vaters, die Hirmann (Mitarbeiterin meiner Großmutter), die Patloch (ehemaliger Schuldirektor in der tschechischen Schule in Simmering), die Konečný (die Eltern meiner Taufpatin), die Carda (die Cousine meiner Mutter) und sicher viele andere, die seltener kamen. An Spitzenwochenenden übernachteten 20 Personen in der Hütte und man kann sich heute kaum vorstellen, wie man sich da arrangiert hat. Immerhin ist die Gegend zum Beispiel als Gelsengegend bekannt und an Sommerabenden war an Schlaf wegen der Gelsen nicht zu denken.

Gegen die Gelsen wurden Räucherstäbchen eingesetzt, die in der geschlossenen Hütte abgebrannt wurden. Danach wurde kurz gelüftet und wieder alles geschlossen.

Die Hütte hatte zwar ein Klosett mit Senkgrube aber die Gäste waren angehalten, ihr großes und kleines Geschäft bei Möglichkeit gleich im Weingarten zu erledigen, um dem Großvater die manuelle Düngung des Weingartens zu erleichtern.

Die Schaukel-I

Ein Kind braucht für den Mittagsschlaf eine Schaukel und mein Großvater hat bereits in der unausgebauten Hütte aus einem riesigen alten Kugellager eine Schaukel gebastelt und diese zuerst im Schlafraum der Hütte und nach Fertigstellung der Veranda ebendort montiert. Meine Tante Hanni schaukelte mich und sang dabei. Es muss etwa wie die Gesänge des Troubadix gewesen sein, weil ich damals gesagt haben soll, sie solle nicht so falsch singen.

Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen soll es gewesen sein, mit einem Hammer Nägel  in die Hütte einzuschlagen. Was normalerweise Entsetzen bei den Erziehungsverantwortlichen hervorruft, war für meinen Großvater eine Sensation und er schaffte immer neue Nägel herbei.

Die Schaukel-II

Vielleicht in meinem neunten Lebensjahr, jedenfalls kurz vor seinem Tod meinte mein Großvater, dass ein Kind eine eigene Schaukel benötigt. Heute wäre das mit einem Einkauf im Baumarkt zu erledigen. Damals ging das so (wenigstens bei meinem Großvater ging das so): zwei ältere Marillenbäume wurden gefällt und dienten als Fundament für ein etwa 2-3 m hohes Gestell aus Brettern und zugehobelten Ästen. Das alte Kugellager von Schaukel-I diente als Aufhängung für ein Schaukel-Schiff (ebenfalls ganz selbstgebaut, eine Eisen/Holz-Konstruktion), das auf vier Stahlseilen mit dem Kugellager verbunden war. In der Schaukel waren zwei Bretter und die Idealbesetzung waren zwei, etwa gleich schwere Kinder. Aber es haben auch schon einmal vier Kinder geschaukelt.

Wir Kinder verbrachten viele Stunden mit dieser Schaukel und wir schaukelten immer wilder. Das Problem waren die Seile, denn wenn das Schaukel-Schiffchen den höchsten Punkt erreicht hat, konnten die Seile keine Druckkräfte aufnehmen und es kam vor, dass dann das Schiffchen gefährlich nach unten kippte bis es schließlich wieder von den Seilen aufgefangen wurde.

Dieses Paradies währte ohne große Veränderungen bis zum Tod meines Großvaters 1958. Ich war damals 10 Jahre alt.

Die Schaukel hatten wir noch viele Jahre nach dem Tod des Großvaters und ich bin sicher, dass er den Fehler mit den Seilen bemerkt hätte und dann die Seile durch Stangen ersetzt hätte. So aber habe ich selbst eine ziemlich auffällig Narbe am Fuß durch einen misslungenen Bremsversuch. Ein Bub aus der Gegend (Friedl Fukatsch) schaukelte einmal unbeaufsichtigt mit einem Freund (Gerhard Ettenauer) (Aufsicht gab’s dort aber sowieso nicht), fiel aus der Schaukel und verletze sich am Kopf, sodass er genäht werden musste.

Die Ferien

Genauer erinnere ich mich nur an die Zeit nach dem Tod meines Großvaters; die Zeit, als ich vom Tschechen zum Wiener konvertiert bin; die Mittelschulzeit. Meine Großmutter verbrachte die Zeit vom Juni bis September in Kritzendorf und ich war während der Sommerferien bei ihr.

Ein Eldorado für ein Stadtkind. Keine Pflicht, nur Freiraum. (Fast) keine Grenzen. Ich lag altersmäßig zwischen zwei Kindergruppen: etwas älter als die Nachbarkinder aber etwas jünger als die Kinder von der Straße.

Und so schwankten auch die Freizeitaktivitäten zwischen beiden Gruppen. Mit den Nachbarkindern war eher Wald, Schwammerlsuchen, Verstecken angesagt, mit den Kindern von der Straße eher Kartenspielen, Schwimmen in der Donau, Spielen mit Autos, Federballspielen auf der Straße.

Der Tagesablauf war etwa folgender: Nach dem Frühstück ein kurzer Pfiff, als Anfrage, ob die Nachbarkinder verfügbar sind (oft mussten sie im Weingarten helfen) oder, ob sie auch etwas einkaufen müssen. Danach zum Beispiel gemeinsamen Einkaufen gehen. Es gab entweder den kleinen Einkauf in einem kleinen Geschäft in der Mittergasse oder den großen Einkauf im Ort.

Im Ort gab es den Lebensmittelhändler Huschauer, die Bäckerei Sved (die Sved bewohnten das letzte Haus in der Feldstraße vor dem Wald auf der rechten Seite bergwärts), eine Drogerie, einen Fleischhauer und ein Milchgeschäft (Milch wurde offen gekauft und schmeckte ausgezeichnet), eine Trafik; außerdem zwei Wirtshäuser.

Bei einem Einkauf konnte man auch ein Eis als Wegzehrung kaufen. Ich dürfte schon als Kind oft mit Frau Flicker einkaufen gegangen sein, denn obwohl ich nur während der beiden Ferienmonate in Kritzendorf war, kannten mich alle Geschäftsleute im Ort. Der joviale Herr Huschauer vom großen Lebensmittelgeschäft im Ort hat mich immer vor allen seinen Kunden laut begrüßt, so, als wären wir alte Freunde. Später, als Herr Huschauer in Pension ging, übernahm sein ehemaliger Lehrling und dann Schwiegersohn, Herr Hascher das Geschäft. Auch ein „Bekannter von der Straße“, Werner Hiss, war Lehrling im Geschäft Hascher. Heute gibt es diese kleinen Geschäfte nicht mehr, es gibt nur mehr eine Billa.

Wenn man heute in den Ort Kritzendorf kommt, gibt es nur mehr schemenhafte Relikte, die an das Damals erinnern. Etwa gibt es an der Rückwand des einzigen mehrstöckigen Wohnhauses im Ort, in dem eben auch das Lebensmittelgeschäft von Herrn Huschauer war, eine gerade noch erkennbare Werbeaufschrift von Persil. Sie wurde in den 1930er Jahren angebracht.

Die Kirche

Warum ich glaube, die Kirche zu kennen, muss mit Frau Flicker, unserer Nachbarin zusammenhängen. Sie sah es als ihre Aufgabe an, mir einerseits Deutsch beizubringen und dann auch eine ordentliche Lebensart und dazu gehörte der Kirchgang am Sonntag. Sicher hat sie mich einige Male zur Kirche mitgenommen. Am Weg dorthin über die „Lauer“ (so heißt ein kleiner Weg zwischen Feldstraße und Neudauerstraße) besuchte sie einmal eine alte Dame, Frau Munk, in einer tollen Villa in der Feldstraße 36 und ich war dabei. Später war ich noch ein- oder zweimal in diesem Haus. Für mich war das ein Haus, wie von einem anderen Stern. Gepflegt, modern, großzügig. Es stellte einen großen Kontrast zu unserer einfachen Lebensart dar, die eher an heutiges Camping erinnert.

Der Transformator

An der Ecke Neudauerstraße/Feldstraße stand oberhalb des Bachs ein Transformatorhäuschen. Wahrscheinlich gibt es das noch heute. Wenn ich unserer Nachbarstochter Lisi einkaufen ging, machten wir an diesem Transformator halt. Sie war älter als ich und sie nutzte diesen Transformator aus, um mich zu ärgern. In dem Häuschen brummte es und für ein Kind war das geheimnisvoll. Lisi setzte sich auf den Betonsockel des Häuschens und spielte „tot“, indem sie die Augen zumachte und sich nicht mehr bewegte und auch nichts sprach. Das war für mich offenbar sehr besorgniserregend und sie freute sich darüber, dass sie mich auf diese Weise hereinlegen konnte.

Wenn das Licht ausging

Unser Grundstück war nicht aufgeschlossen. Es gab weder Wasser, Kanal oder Strom.

Für Wasser hat mein Großvater gesorgt. Einerseits gab es etwas weiter oben am Grundstück einen etwa 12 Meter tiefen Brunnen, den schon der Vorbesitzer anlegen ließ, anderseits hat mein Großvater im Zuge des Zubaus der Veranda unmittelbar vor dem Haus einen etwa 4 Meter tiefen Brunnen angelegt. Immer wieder gab es Diskussionen um die Verwendbarkeit des Brunnenwassers. Nach Ansicht meines Onkels Ludwig (Hirmann) hätte man eine Untersuchung der Wasserqualität vornehmen sollen. Das wurde aber nicht gemacht (das war meinen Eltern und Großeltern zu aufwändig). Ich holte das Trinkwasser beim Nachbarn, bei den Plachy, denn die hatten an der Rückseite des Hauses eine „Bassena“. Der Hausbrunnen wurde nur zum Waschen und Kochen benutzt.

Kanal gab’s auch keinen, vielmehr hat mein Großvater im Zuge des Ausbaus der Hütte eine Senkgrube gemauert. Der Inhalt des Senkgrube wurde im Weingarten ausgebracht und diente der Düngung. Nach dem Tod meines Großvaters wurde die Hütte nicht mehr so intensiv genutzt. Vielleicht wurde in manchen Jahren die Gemeinde zum Auspumpen zu Hilfe  gerufen; später dann dürfte sich der Pegel in der Senkgrube „natürlich“ geregelt haben. Einerseits, weil die Senkgrube immer baufälliger wurde und dann nicht mehr ganz dicht war und dann waren nur mehr meine Großmutter und ich in der Hütte und wir verwendeten kein Spülwasser und daher blieb der Wasserstand in der Senkgrube immer etwa gleich.

Heute würde man sich in einer solchen Randlage einen leisen Generator aufstellen. Das gab’s damals nicht und daher wurde Licht ausschließlich mit Petroleumlampen erzeugt. Schade, dass ich keine einzige dieser Lampen mehr besitze. Die Lampen wurden bei der letzten Plünderung der Hütte gestohlen. Das Petroleum war in einem Kanister mit etwa 5 Litern gelagert. Wenn es zur Neige ging, musste ich einen längeren Einkauf tätigen und zwar in Unterkritzendorf. Meist begleiteten mich die Nachbarskinder und kauften ebenfalls etwas für ihren Haushalt ein.

Freunde in der Straße

In der unmittelbaren Umgebung gab es die Familien Ettenauer und Fukatsch. Bei den Ettenauers gab es die Brüder Wolfgang (älter), Gerhard (gleich alt) und Peter (jünger). Und bei den Fukatsch gab es den Friedl (älter), der auch eine verheiratete Schwester hatte.

An Nachmittagen war ich oft im Strombad. Es war mir damals völlig unerklärlich, wozu man dort hunderte Kästchen gebraucht hat, wo doch immer nur einige wenige vergeben wurden.

Das Schwimmen spielte sich so ab: man ging entlang der Donau stromaufwärts bis zum „Spitz“ (dort, beim Silbersee zweigt der Durchstich ab). Dort ging man ins Wasser und ließ sich mehr oder weniger bis zum Strombad treiben, manchmal auch bis zur Wasserskischule.

Ein besonderes Highlight waren aber die Donauüberquerungen, die ich allein aber mit zur Sicherheit einem Luftpolster gewagt habe, weil die anderen eher schlechtere Schwimmer waren. Nach Korneuburg schwimmen geht sehr schnell aber der Rückweg hat’s in sich, denn es genügt nicht, bis zum Silbersee zurückzugehen, denn an dieser Stelle krümmt sich die Donau nach Süden, Richtung Wien und man wird wieder ans Korneuburger Ufer zurückgetrieben. Man muss also noch weiter stromaufwärts gehen, damit man es schafft, bis zum Strandbad wieder die Kritzendorfer Seite zu erreichen.

Eine typische Abendbeschäftigung waren Federballspiele auf der Straße. Man spannte eine Schnur und los ging’s. Gestört höchstens durch Herrn Košinský mit seinem Motorrad und Herrn Ettenauer mit seinem Ford.

Fernsehen gab es nicht und ich erinnere mich an kollektives Radiohören bei den PlachyGestatten, mein Name ist Cox„.

Der Niedergang

Nach dem Tod des Großvaters im Mai 1958 blieb nichts, wie es war. Eine „Task-Force“ bestehend aus meinem Vater, Onkel Hirmann, Onkel Ludwig und Onkel Otto bemühten sich, die Weinernte einzufahren. Die Mostgewinnung haben sie noch hingekriegt. Aber dann waren es einfach zu viele Köche. Die Gärung ging daneben, es gab Essig statt Wein. Der Niedergang begann. Mit jedem Jahr wurde deutlicher, was eine entschlossen handelnde Person mit Fachkenntnissen und vor allem mit Willen und Motivation alles bewegen kann. Der Großvater fehlte auf allen Ecken und Enden. Niemand war in der Lage, die Hütte und den Garten auch nur zu erhalten.

Der Weingarten verwilderte und wurde irgendwann im Auftrag meiner Mutter von einem benachbarten Bauern gerodet. Die Bäume hatte keinen ordentlichen Schnitt und die Äste wuchsen unkontrolliert dem Licht entgegen. Die Wege verfielen.

Meine Großmutter musste das alles ohnmächtig mit ansehen, denn da sie selbst kaum gehen konnte, und ich kein besonders folgsames Kind war, blieb alles unerledigt, was man hätte erledigen müssen: Obst pflücken, nach Hause transportieren, Reparaturen ausführen uvam.

Die Selbstgespräche

Eifersucht und Selbstvorwürfe wollten irgendwie abgebaut werden. Meine Großmutter stellte sich eine Person vor und sprach dann mit dieser Person. Wenn man sich der Hütte näherte, meinte man, sie hätte Besuch, doch es waren nur ihre ausgedachten Besucher.

In dieser Einschätzung konnte man sich aber auch einmal irren und traf dann zum Beispiel Frau Wimmer, die Nachbarin zu Linken (Feldstraße 90) an.

Ausklang

Mein Studium brachte es mit sich, dass es Jahre gab, wo niemand mehr unser kleines Paradies besuchte. Das gesellige Leben der Nachkriegszeit machte Platz für Radio, Fernsehen und Wohlstand.

Nach dem Tod meiner Großmutter 1967 schien das Ende des kleinen Paradieses gekommen, doch wurde es noch einige Jahre durch Familie Hirmann am Leben erhalten.

Mein Onkel Ludwig bekam einen Schlaganfall und Kritzendorf war eine gute Möglichkeit, in frischer Luft und mit ein bisschen Betätigung mehr Lebensfreude zu erlangen. Und meine Eltern waren froh, dass sich jemand um die Hütte kümmerte.

Ich erinnere mich, dass ich am Ende eines Arbeitstages auf der TU (damals Technische Hochschule) oder der Tierärztlichen Hochschule, wo ich in den Sommermonaten eine Arbeitsstelle bekommen habe, mit meinem Fiat 1500 nach Kritzendorf fuhr und nicht nach Hause.

Es kam wieder so etwas wie Ordnung in die Hütte.

Eine interessante Begegnung gab es noch. Die Bekannten von der Straße gingen ihre eigenen Wege, gründeten Familien und zogen aus. Familie Fukatsch wohnte in diesen Tagen nicht mehr in der Feldstraße sondern in Höflein und bewirtschaftete dort am Wochenendweg 7-9 die „Strandburg Silbersee“, das Pfadfinderheim des „Österreichischen Pfadfinderbundes“. Bei meinen Ausflügen ins Strandbad unternahm ich immer wieder Donauüberquerungen und bei einer dieser Touren dürfte ich absichtlich oder unabsichtlich früher an das Kritzendorfer Ufer gelangt sein und besuchte Friedl in der Strandburg. Er kann sich noch auf diese Begegnung erinnern.

Danach war aber endgültig Schluss. Meine Eltern hatten nie das Bedürfnis, einen Garten zu pflegen und ich war auch kein Gärtner-Typ. Die Hütte und der Garten verfielen zusehends. In manchen Jahren kam es zu Einbrüchen aber man konnte dort nichts Wertvolles finden also blieb es meist bei den zerschlagenen Fensterscheiben.

Die Rodung

Der verwilderte Garten war für die Nachbarn sicher sehr unangenehm. Nach dem Tod meiner Eltern habe ich unseren Nachbarn Michael Huber gebeten, einen Auftrag zur Rodung des Garten anzunehmen. Mit der Hilfe eines Caterpillars entwurzelte er die Bäume und machte aus dem Obst- und Weingarten eine Wiese. Nur einen Baum ließ er stehen, einen Kirschbaum, den mein Großvater als einen der letzten Bäume speziell für die Kinder gepflanzt hatte. Dieser Baum steht heute noch.

Die Verpachtung

Kurz nach der Rodung bot mir Herr Pscheidt, eine Weinbauer in der Mittergasse an, den Weingartenteil zu pachten. Ich ging auf den Vorschlag ein und ersparte mir damit die Zahlung der Grundsteuer, denn die Pacht war etwa in dieser Höhe.

Der Verkauf

Mir war klar, dass weder ich selbst noch unser Sohn Florian dieses Grundstück je bewirtschaften oder bebauen würden. Daher boten wir das Grundstück zum Kauf an und ein Vorarlberger in Niederösterreich, Herr Dr. Jochum hat den straßenseitigen Teil, das Bauland, gekauft. Und einige Zeit danach wurde auch der Weingarten an Herrn Pscheidt verkauft.

Die Verwertung

Unter dem Motto, Kapital mit möglichst breiter Streuung anzulegen, haben wir einen Teil des Erlöses auf ein Sparbuch und einen anderen in Fonds angelegt (lauter Fonds, die von der Ersten empfohlen werden). Leider hat das aber nichts genützt und der Wert der Fonds ist 2008 stark gefallen. Ich habe daher das Kapital am Sparbuch in das Wohnhaus Lorystraße 17 in die Renovierung von Wohnungen investiert, weil ich von der Bewirtschaftung von Fondsvermögen zu wenig verstehe. Aber auch die Fonds hatten in diesem Zusammenhang einen Wert, denn sie dienen als Sicherstellung für einen Rahmenkredit, der von der Hausverwaltung für das Haus bei Bedarf beansprucht werden kann. Damit bekam das Geld eine vernünftige Aufgabe, denn die renovierten Wohnungen sind eine langfristige Anlage, ähnlich wie das frühere Grundstück, und: sie werden genutzt.

Damit ist das Kapitel des kleinen Paradieses am Rande der Stadt geschlossen.

Die versunkene Welt am Strom

Als Erinnerung an diese Jahre unternehmen wir immer wieder Ausflüge in die Gegend, zuletzt in das Gasthaus Fischerstubn (vorher Fischer, vorher Sienel, vorher Lanzendörfer, vorher Kropacek). Leider hat auch dieser letzte Pächter aufgeben müssen.

Der Niedergang der eigenen Lebenswelt hat dort, im Strombad Kritzendorf eine größere und tragischere Parallele. Es gibt sie noch, die vielen, zum Teil sehr interessanten Bauten, die dort in der Zwischenkriegszeit entstanden sind. Aber es herrscht dort jetzt eine große Ruhe, wie in einem Dornröschenschloss.

Ich ging in den 50er- und 60er-Jahren regelmäßig ins Strombad und wunderte mich über Hunderte Kästchen, von denen nur einige wenige belegt waren. Wo waren all die Leute?Heute ist es mir klar: in der Zeit vor 1938 war dieses Bad ein Paradies (so, wie unsere Hütte am Berg) und das Wiener Bürgertum stürmte diesen Strand vor den Toren von Wien. Natürlich waren viele jüdische Familien darunter, vielleicht waren sie sogar in der Mehrzahl. Damals, vor 1938, waren Juden noch sicher. Erst 1938 machte die Bewegung auch vom kleinen Kritzendorf nicht halt und Schilder wie „Juden ist der Zutritt verboten“ machten Schluss mit dem Paradies. Die jüdischen Hüttenbesitzer wurden enteignet und kehrten nicht wieder zurück. Entweder, weil sie tot waren oder, weil sie auswandern mussten und sich nach dem Krieg eine Rückkehr nicht wieder vorstellen konnten (es gab auch keine Einladung seitens der österreichischen Regierung).

Heute dümpelt der einst so begehrte Strand vor sich hin. Eine Welt ist versunken vor unseren Augen und niemand weiß mehr davon.

Wer weiß noch, dass damals Linienschiffe und tolle Motorboote beim Gasthaus Lanzendörter (heute Fischer) anlegten? (Reste vom Anlegesteg sind heute noch zu sehen.) Wer weiß noch, dass im Pavillon des Strandbades die Wiener Symphoniker musizierten?

Gestern (7.8.2012) hörte ich in Ö1, dass so etwas wie eine Renaissance des Strombades Kritzendorf zu beobachten ist und viele Gäste aus Wien wieder beginnen, den kostenlosen Badebetrieb zu nutzen.

Begegnung mit der Kindheit

An anderer Stelle wird erzählt, wie Computer mein Leben bestimmen. Bei der Verwaltung unserer Mitglieder ist mir aufgefallen, dass es einige Kritzendorfer Adressen gibt. Es stellte sich heraus, dass unser Nachbar Roman und auch Franz, der Ehegatte meiner Kindheitsfreundin Toni Mitglied bei ClubComputer sind. Im Laufe der gemeinsam verbrachten Clubabende stellte sich heraus, dass ich sehr viele Bilder aus diesen Kindheitstagen habe und Roman lud mich im April 2016 zu einem gemeinsamen Dia-Abend ein. Ich nahm alle meine Bilder mit und Michael Huber, sein Bruder Rainer und Roman plauderten über eine längst vergangene Zeit.

Eine Erzählung hat es mir besonders angetan. Die Hubers hatten auch Truthühner. Aus Angst vor den Greifvögel flatterten sie oft auf den Baum in der Mitte des Hühnerstalls. Irgendwie ist dann ein solches Huhn übermütig geworden und flatterte vom Baum über den Zaun, und weg war’s. Große Suche war angesagt, denn so ein Tier hatte einen große Wert. Man suchte bis zur Mittergasse aber das Huhn war verschwunden.

Mehr als Zwanzig Jahre danach waren die Hubers etablierte Weinbauern und hatten zwei Mal im Jahr einen Heurigen. Bei einem diese Heurigen hatten sie Besuch von Freunden und unter dem Einfluss der guten Laune erzählten die Freunde, dass sie damals als Kinder auf der Straße einen Truthahn aufgegriffen und nach einem kurzen Prozess auch verspeist hätten.

Die Zeit heilt alle Wunden, besonders bei einem Glaserl Wein.

Literatur

  • Raimund Hofbauer, Kritzendorf einst & heute, Heimat Verlag, 2009
  • Lisa Fischer, Die Riviera an der Donau, 100 Jahre Strombad Kritzendorf, Böhlau Verlag, 2003

Weblinks

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